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Die Frau am Brunnen

DIE FRAU AM BRUNNEN


Jagababa saß auf dem Rande eines Brunnens und spann Wasser. Feine Fäden zupfte sie aus der Kunkel, denn statt eines Eimers hing ein Rockenstab über dem Brunnenspiegel, der war umwirbelt von dem klarsten Wasser, umsprüht von den feinsten Tröpfchen, die im schwarzen Haar der Spinnerin silbern auffunkelten. Der Wasserfaden aber wickelte sich ganz von selbst auf eine eschene Spindel, und eine lebendige Spinne diente als Wirtel. Mit jeder Umdrehung der Spindel wechselten Tag und Nacht, es funkelte und blitzte um sie herum als blinzele das Licht mit den Augen, und es breitete sich von der Spindel her in aufatmenden Kreisen, als habe man einen Stein in den Himmel geworfen. Immer neuen Faden zog Jagababa aus dem Wasservlies heraus mit dünnhäutigen Fingerspitzen, die ihn fein zwirbelten und drehten; doch dann floss die Spindel über und der Faden glitt von der Spindel über den Rücken der Wirtelspinne auf den Boden.

Da kam Bruder Wind, das Söhnchen von Jagababa, und er spielte mit den Wasserfäden und blies mit dem Mund Regenbögen zum grauen Himmel. „Bringe mir nicht mein Garn durcheinander, Söhnchen!“, sagte Jagababa zum Wind. „Du kannst dich genau so gut nützlich machen und es aufwickeln!“ Wind sah sich um, und das Einzige, was es gab, war ein großer Stein, höher als der höchste Berg, von dem du je in einem Märchen gehört hast, breiter als der breite Berg, um den du im Traum nicht in hundert Jahren herumgehen kannst. Den nahm Söhnchen Wind und wickelte das Wasser darauf. Doch das feine Wassergarn scheuerte sich an den Ecken des Steinwürfels und riss an seinen Kanten, zerriss und fiel zu Boden. „Du verdirbst mir ja mein Garn!“, sagte die weiße Jagababa. „Mache den Stein rund und glatt für die Sinne, so wird es nicht reißen.“ Denn sie spann immer weiter, und das Garn lag schon schäumend um ihre Füße wie ein Meer.

Aber so oft Bruder Wind auch um den Stein fuhr, er glättete sich nicht, und Jagababa wurde immer ungeduldiger, denn hatte sie erst nur nasse Füße gehabt, so hatte sie jetzt schon nasse Knie. „So schnell kann dir nur rote Magie den Stein schleifen und die Knochen wärmen!“ sagte Bruder Wind schließlich zornig. Also rief Jagababa ihr anderes Söhnchen, das war Brüderchen Feuer, und Brüderchen Feuer fuhr um Jagababas Beine und in Mütterchen Steins Bauch, und sein Atem glühte und kochte, bis sie so weich war wie Hirsebrei, und Wind drehte die Steinfrau in den frostigen Händen und glättete ihre Haut. Da wurde Mütterchen Stein außen kühl und glatt und fest, und Bruder Feuer konnte nicht mehr heraus. Das sah Brüderchen Wind und wickelte schnell das Wassergarn um den Steinleib, damit Jagababa nicht merken sollte, dass sein kleiner Bruder Feuer in dem Stein gefangen war. Seine Hände waren aber ganz schmutzig von Asche und rau vom Feuer, und als alles Wasser aus dem Brunnentrog gesponnen und auf die Steinriesin gewickelt war, da waren viele Löcher und Flecken in dem Wasserkleid von Steinriesin, kleine und große.

Nun bekam Söhnchen Wind es erst Recht mit der Angst zu tun und wollte Steinriesin schnell weit forttragen; aber die weiße Spinnerin und ihre Wirtelspinne hatten flugs ein steppengroßes Netz aus den abgerissenen Wasserfäden geknüpft, die noch überall herumgelegen hatten. Damit fingen sie Brüderchen Wind, der die Steinriesin in den Armen hielt. Und auf einmal verliebte sich die kleine Wirtelspinne in die runde Riesin, spann einen Seidenfaden vom Brunnenrand in der Mitte der Welt zum kugeligen Bauch der Riesenfrau und spann so schnell, dass die Wassertropfen, die aus ihrem Pelzchen sprühten, um den langen Brückenfaden tanzten wie schimmernde Perlen um die Kette der Zarin.

Doch Jagababa sah nicht hin, sondern schielte eifersüchtig durch das Netz auf das Glück von Steinriesin und Spinne und lauschte an der klebrigen Wand und hörte, wie Töchterchen Spinne der Steinriesin den Namen Mütterchen Erde gab, weil sie schwanger war mit Brüderchen Feuer in ihrem Schoß und fruchtbar vom Brunnenwasser; die Löcher im Kleid von Mütterchen Erde aber sind ihre Kontinente, die Ascheflecken sind die Wolken, die Wassertropfen, die in den Maschen des Fangnetzes glitzern, sind ihre Sterne und Brüderchen Wind – mitgehangen, mitgefangen! – fährt noch heute um sie herum. Über der Mitte des Brunnentroges in der Mitte der Welt dreht sich bis morgen noch die Spindel, und in dem Brunnentrog steht Jagababa und bückt sich und stützt sich auf den Wockenstab und sucht mit ihrem gelben Auge am Tag und mit ihrem weißen Auge in der Nacht nach ihrem Wirtelstein, aber wie sie sich auch bückt und wie sie auch blinzelt, sie kann ihn nicht entdecken.

Die Wirtelspinne nämlich hat sich hier unter dem Kleid und dort in den feinsten Hautfalten von Mütterchen Erde verkrochen, und wer sie findet, der kann von ihr die heilige Zahl aller Spinnerinnen erfahren; für den fängt sie den Wind der Zukunft in einem Netz, und er kann sogar das Schicksal der Menschen bestimmen, wenn die Wirtelspinne ihn über ihre Brücke, die nachts am Himmel leuchtet, zur Jagababa führt; aber das tut sie nicht immer, denn ihr war sehr lange schwindelig.

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Zuletzt aktualisiert: 12. Nov, 19:16

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